Im Gebiet westlich des Biebricher Schlossparks entsteht auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei das neue Quartier „Wohnen westlich des Schlossparks“. Die ESWE Versorgungs AG, der ansässige Energieversorger, lässt hier unter anderem fünf Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 67 Wohneinheiten und 10 Reihenhäuser errichten. Mit im Boot sind die Stadtentwicklungsgesellschaft und die Entsorgungsbetriebe der Stadt.
Dass die Entsorgungsbetriebe an dem Projekt beteiligt sind, liegt an ihrem Hauptabwasserkanal. Der verläuft unterirdisch entlang der neuen Siedlung und führt zum nahegelegenen Klärwerk Biebrich. Aus diesem Kanal gewinnt die ESWE als Betreiber des neuen Quartiers die Wärme, mit der sie die Wärmepumpen in den angeschlossenen Wohngebäuden mit Primärenergie versorgt. Zu diesem Zweck wurde auf der Kanalsohle ein Wärmeübertrager aus Edelstahl installiert, 112 m lang und 4592 kg schwer. Der Wärmeübertrager entnimmt dem zwischen 12 und 14 °C warmem Abwasser Wärmeenergie und überträgt sie in das kalte Nahwärmenetz des Quartiers.
Günstige Bedingungen
Dass sie den Abwasserkanal als Energielieferant nutzen können, ist in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall für Planer und Betreiber. Sie bekommen – außer den Kosten für den Wärmeübertrager –, kostenlose Primärenergie, die sonst ungenutzt verpuffen würde. Hinzu kommt: Die Abwassermenge im Kanal bleibt ganzjährig nahezu konstant und auf einem hohen Temperaturniveau, verglichen mit sonstigen Energiequellen. Das wirkt sich positiv auf die Energieeffizienz der Wärmepumpen aus.
Eine Erdwärmepumpe etwa liefert in Mitteleuropa Primärenergie mit einer Temperatur von ungefähr 10 °C, und eine Luft-Wasser-Wärmepumpe entzieht der Umgebungsluft selbst bei Minusgraden im Winter noch ausreichend Energie, um ihre Arbeit problemlos zu verrichten.
Ein kaltes Netz, wie es hier genutzt wird, eignet sich besonders für die Kombination mit Wärmepumpen. Denn die geringe Temperaturdifferenz zwischen Wärmequelle und der Vorlauftemperatur moderner Flächenheizsysteme steigert die Effizienz von Wärmepumpen zusätzlich.
Dass das System dem Abwasser Wärme entzieht, fällt indes kaum ins Gewicht. Wird die Anlage unter Volllast betrieben, kühlt sich der Abwasserstrom um rund 1,5 K ab. Allerdings münden im weiteren Verlauf des Kanalnetzes noch weitere Kanäle ein, die wieder Wärme an das Abwasser zurückgeben. Dadurch ist bereits nach einigen hundert Metern keine Temperaturdifferenz mehr messbar.
Hohe Effizienz
Die gewonnene Wärmeenergie wird über das Nahwärmenetz an die Gebäude verteilt. Die fünf Mehrfamilienhäuser sind jeweils mit einer Wärmepumpe vom Typ alpha innotec SWP 561 H ausgestattet. Deren Installation erledigte die Weinkopf GmbH, seit rund 20 Jahren Partner des oberfränkischen Wärmepumpenherstellers alpha innotec. In dieser Zeit hat Weinkopf mehr als 500 Wärmepumpen verbaut.
Die Wärmepumpen des Wiesbadener Projekts sind speziell für die Versorgung von Großobjekten konzipiert und bringen eine Leistung von 50 kW. Zwei große Pufferspeicher in jedem Mehrfamilienhaus sorgen dafür, dass den Wohnungen jederzeit ausreichend Heizungswasser zur Verfügung steht. Die Bereitung des Brauchwarmwassers übernimmt eine große Frischwasserstation. Sie bezieht die für das Brauchwasser benötigte Wärmeenergie aus dem Heizungswasser der Pufferspeicher.
Anders organisiert ist die Wärmeversorgung der Reihenhäuser: Hier arbeitet in jedem Haus eine kleinere Wärmepumpe vom Typ alpha innotec WZSV mit 9 kW Leistung. In diese Geräte ist jeweils ein 180 l-Speicher für das Brauchwarmwasser integriert. Deren Vorteil ist, dass sie mit Frequenzregelung arbeiten. Damit richten sie ihre Wärmeerzeugung am jeweiligen Bedarf aus.
Mit der eingesetzten Technik ist eine Jahresarbeitszahl (JAZ) über 5 erreichbar. JAZ 5 bedeutet, diese Geräte machen aus 1 kW Strom 5 kW Heizenergie. Aufgrund der hohen Wärmequellentemperatur, die durch den Wärmeübertrager der ESWE zur Verfügung steht, sind im realen Betrieb noch höhere Jahresarbeitszahlen möglich.
Ausreichend Energie
Die Energie aus dem Abwasserkanal reicht aus, um das komplette Quartier mit Wärme zu versorgen. Der Wärmebedarf für die Neubauten liegt bei rund 500 000 kW pro Jahr. Wollte man diesen Bedarf mit fossilen Brennstoffen decken, würden etwa 50 000 l Heizöl oder 50 000 m³ Gas benötigt. Mit der jetzigen Lösung hingegen spart der Betreiber rund 65 t CO2 pro Jahr ein. Ein Kostenfaktor und – vor allem – ein Pluspunkt für Klima und Umwelt.
Als im Jahr 2017 mit den Planungen für das neue Quartier begonnen wurde, war bereits eine möglichst umweltfreundliche Wärmeversorgung vorgesehen. Dabei ist man schnell auf die Idee gekommen, den Abwasserkanal einzubeziehen. Um die Machbarkeit zu prüfen, arbeiteten die Entsorgungsfachleute der Stadt Wiesbaden und Experten aus Planungsbüros zusammen, die Erfahrung mit kalten Nahwärmenetzen hatten. Dabei hat sich schnell gezeigt, dass die ins Auge gefasste Lösung machbar und wirtschaftlich ist.
Allerdings mussten die Investoren für das neue Quartier von der Funktionalität, der Wirtschaftlichkeit und Zukunftsfähigkeit des Konzepts überzeugt werden. Denn es gab zu jener Zeit noch nicht allzu viele Projekte, in denen etwas Vergleichbares umgesetzt worden war. Die Überzeugungsarbeit gelang schließlich nicht zuletzt dank kommunaler Rückendeckung.
Dezentrale Versorgung erwogen
In den Gesprächen mit den Investoren wurde unter anderem intensiv diskutiert, ob auch die Mehrfamilienhäuser jeweils mit einer Wärmepumpe pro Wohnung ausgestattet werden sollten.
Solche dezentralen Lösungen haben für Quartiersbetreiber oder Wohnungsbauunternehmen durchaus Vorteile gegenüber einer zentralen Wärmeversorgung. Denn damit obliegt auch die Erzeugung von Brauchwarmwasser dem jeweiligen Wohnungseigner oder -mieter. Dadurch entfallen jegliche Vorkehrungen, die sonst getroffen werden müssen, um die Vorgaben der Trinkwasserverordnung wegen Verunreinigung oder Legionellengefahr gerecht zu werden.
Denn eine zentrale Trinkwasserversorgung mit einer Großanlage ab drei Wohneinheiten unterliegt strengen Auflagen, zu denen auch eine regelmäßige Kontrollpflicht gehört. Ein dezentraler Warmwasserspeicher hingegen, wie er üblicherweise mit einem Volumen von 180 bis 200 l in einer kompakten Wärmepumpe integriert ist, gilt als Kleinanlage. Und solche Kleinanlagen sind von der regelmäßigen Kontrollpflicht ausgenommen.
Außerdem ist bei einer dezentralen Versorgung jeder Haushalt selbst für die Energiekosten verantwortlich, die durch die Brauchwasserbereitung anfallen. Der Strom für die Wärmepumpe läuft wie bei anderen Haushaltsgeräten auch einfach über den wohnungseigenen Stromzähler.
Wertvolle Wohnfläche eingespart
Allerdings sprachen vor allem zwei Gründe gegen eine solche Lösung in den Mehrfamilienhäusern. Erster Grund ist der Verlust an Wohn- beziehungsweise Nutzfläche in den Wohnungen. Zwar nehmen heutige Wärmepumpen sehr wenig Raum in Anspruch, dennoch war den Investoren dieser Platz zu wertvoll, um ihn für die Heizung zu reservieren.
Zweiter Grund: Die ESWE als Quartierbetreiber stellt sowohl die Infrastruktur, also das Wärmenetz, als auch die Wärmepumpen zur Verfügung – und ist damit auch für deren Wartung und Funktionalität zuständig. Der damit verbundene Aufwand, der entstünde, wenn jede einzelne Wohnung mit einer eigenen Wärmepumpe ausgestattet würde, erschien den Planern und Investoren zu hoch.
Also entschied man sich dafür, jedes Mehrfamilienhaus mit einer großen Wärmepumpe auszustatten, die alle Wohneinheiten im Haus versorgt. Der Trinkwasserverordnung wird man dadurch gerecht, dass mit einer Vorlauftemperatur knapp unter 70 °C gearbeitet wird. Laut Trinkwasserverordnung muss das Wasser den Warmwasserspeicher mit mindestens 60 °C verlassen, und der maximale Temperaturabfall im Leitungssystem darf nicht mehr als 5 K betragen.
Projekt mit Pilot-Charakter
Die Wärmeversorgung für das Quartier „Wohnen westlich des Schlossparks“ hat für Wiesbaden Pilot-Charakter. So ist in einem weiteren Teilprojekt in unmittelbarer Nähe der Bau von sieben privaten Einfamilienhäusern geplant. Da es in diesem Gebiet keine Gasleitung gibt und Ölheizungen nicht mehr erwünscht sind, werden sich die dortigen Investoren oder Hauseigner zwischen einer eigenen individuellen Heizanlage, wie zum Beispiel eine Pelletheizung, oder dem Anschluss an das Nahwärmenetz plus Wärmepumpe als Heizsystem entscheiden müssen. Es besteht die Hoffnung, dass sich das Wärmepumpenkonzept auch hier durchsetzt.
Inzwischen denken die Wiesbadener Stadtplaner und Versorger bereits darüber nach, wie sich diese Art der umweltfreundlichen Energieversorgung auch für andere Neubaugebiete realisieren lässt. Statt Abwärme aus einem Abwasserkanal, so die Überlegungen, könnte Erdwärme als Energiequelle dienen.
Energieeffiziente Quartiere im Trend
Energieeffiziente kommunale Quartiere liegen im Trend. Denn Kommunen müssen bei der Entwicklung neuer Quartiere auf die künftigen Betriebskosten achten, und dabei spielt der Verbrauch an Wärmeenergie eine Schlüsselrolle. Der Bedarf an Primärenergie für Gebäude soll im Jahr 2050 um 80 Prozent unter dem Wert von 2008 liegen, so die Vorgaben der Politik [1]. Dazu muss, wer heute ein neues Wohngebäude erstellt, hohe Auflagen in Sachen Energieeffizienz und -verbrauch erfüllen. Diese Ziele sind mit dem intelligenten Einsatz von Wärmepumpen zu schaffen.
Die Wiesbadener ESWE investiert für die Wärmeversorgung im neuen Stadtquartier rund 800 000 Euro und fördert das Wärmekonzept über den unternehmenseigenen Innovations- und Klimaschutzfonds. Dieser bezuschusst speziell Projekte, die die natürlichen Ressourcen schonen und den Klimaschutz fördern. Darüber hinaus wird der Wärmeübertrager durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert. Dieser hat sich unter anderem die Verringerung von CO2-Emissionen, den Erhalt und Schutz der Umwelt sowie die Förderung der Ressourceneffizienz zum Ziel gesetzt.
www.ait-deutschland.eu
[1] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Energieeffizienzstrategie Gebäude, Seite 9.
(https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/energieeffizienz…): „Das bedeutet, dass der Primärenergiebedarf durch eine Kombination aus Energieeinsparung und dem Einsatz erneuerbarer Energien bis 2050 in der Größenordnung von 80 Prozent gegenüber 2008 zu senken ist.“