Kann die Kälte-Klima-Branche vom Megatrend Smart Grid profitieren? Bei der 10. Fachtagung der Fachzeitschrift DIE KÄLTE + Klimatechnik mit dem Titel Wie smart ist die Kältetechnik? Chancen und Perspektiven für den Anlagenbau am 16. Mai 2013 in Darmstadt wurde aufgezeigt, wie smart ready die Branche aufgestellt ist, wer das Umsetzungstempo bestimmt und wie smarte Geschäftsmodelle rund um das Thema Power to Cold, also die Umwandlung von überschüssigen Stromkontingenten in Kälteenergie, aussehen könnte. Die gute Nachricht: Ja, die Kälte- und Klimaanlagen bieten ein für die Energiewirtschaft attraktives Lastverschiebungspotenzial, um positive und negative Regelenergie zur Stabilisierung der Stromnetze zur Verfügung zu stellen.Die schlechte Nachricht: Es fehlt weiterhin an den notwendigen Kommunikationsprotokollen, um die Automatisierungswelten von Anlagen und Gebäuden mit denen der Stromnetze und Kraftwerke zu verbinden. Bis auf Weiteres scheint das auch so zu bleiben, denn bisher existieren keine überzeugenden Geschäftsmodelle, die einen Anreiz zur Beschleunigung des Netzumbaus zum Smart Grid leisten könnten.
Für Prof. Dr.-Ing. Martin Becker von der Hochschule Biberach spielt das Netzmanagement und damit die Schnittstelle zum Gebäude und dessen gebäudetechnischen Anlagen bei der Umsetzung von Smart-Grid-Funktionen die entscheidende Rolle. Aber, Zitat, wann und wie das intelligente Stromnetz in die Praxis umgesetzt wird, weiß heute noch niemand. Becker kritisiert in diesem Zusammenhang den inflationären Gebrauch des Begriffes smart, der inzwischen vom smarten Sensor bis zur smarten City herhalten muss. Dabei werde der Nutzer und dessen Bedürfnisse, wie beispielsweise Komfort und thermische Behaglichkeit, oft vergessen.
Wichtig sei, dass die Smart-Grid-Technologie möglichst verlustfrei ineinandergreife, angefangen bei den Komponenten einer Anlage über das Anlagensystem, das Gebäude und die Liegenschaft bis zur Vernetzung mit der Infrastruktur der Gemeinde, der Stadt oder der Region. Je intelligenter Anlagen, Gebäude und Region vernetzt seien, desto kleinräumiger könnten Energieangebot und Energiebedarf koordiniert werden. Das würde auch die Netze entlasten. Voraussetzung für ein reibungsloses Zusammenspiel von Gebäude und intelligentem Stromnetz sei ein Smart Building, das folgende Funktionen und Eigenschaften erfüllt:
- verfügt über standardisierte Schnittstellen zwischen Gebäudeautomation und Smart Grid,
- lässt sich in ein Last-, Energie- und Netzmanagement einbinden,
- kann schaltbare Lasten in Form von positiver und negativer Regelenergie anbieten,
- schaltet in Zeiten hoher Energiepreise definierte Verbraucher ab, optional auch dezentrale Energieerzeuger (BHKW) zu,
- verfügt über Möglichkeiten, überschüssige Energie aus dem Netz zu speichern, z. B. in Kälte- bzw. Wärmespeichern,
- nutzt höherwertige Steuerungs- und Regelungsstrategien, wie Wetterprognosen und Lastprofile, um Regelleistung vorausschauend einzuplanen.
Bei der Bewertung von Speicherkapazitäten, Lastverschiebungspotenzial und Regelleistung sei es wichtig, das theoretisch realisierbare Potenzial mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten und den Zwängen der Praxis zu gewichten. In jedem Fall müsse ein Ausgleich von Energieerzeugung und Energieverbrauch auf lokaler Ebene angestrebt werden. Aus wirtschaftlichen Gründen kommen hierfür derzeit nur thermische Speicher (Kälte-/Wärmespeicher) bzw. das Speichervermögen des Gebäudes über thermoaktive Bauteilsysteme (TABS) infrage. Die Nutzung von TABS sei dabei nach heutigen Gesichtspunkten im Vergleich zu Eisspeichern bedeutend wirtschaftlicher.
Becker hält es für wichtig, Systemlösungen für Kälte-Klimaanlagen mit Speicher zu entwickeln und dabei die entsprechenden Regelungs- und Steuerungsstrategien mit einzubeziehen. Dabei müsse die gesamte Wirkungsgradkette im Systemverbund, also Energieerzeugung und Energieverteilung, berücksichtigt werden. Voraussetzung für Geschäftsmodelle mit zeit- und lastvariablen Tarifen seien flexible Gebäudeautomatisierungs-Infrastrukturen auf der Basis des BACnet-Protokolls.
Modellstadt Mannheim
Erste Erfahrungen mit Smart-Grid-eingebundenen Kälteanlagen wurden im Rahmen der eTelligence-Projekte in Cuxhaven mit Kühlhäusern sowie mit Kälte-Klimaanlagen in Mannheim gemacht. Für die Klima-Kälte-Branche dürfte das E-Energy-Projekt Modellstadt Mannheim interessant sein, da hier das Lastmanagementpotenzial von kältetechnischen Anlagen (Haushalt, Klimaanlagen, Prozesskälte, Kühllager, Kühlanlagen im Lebensmittel-Einzelhandel, Industrie-Klimaanlagen, gewerbliche Klimaanlagen) erstmals gewichtet wurde. Demnach sind in Mannheim (ca. 315000 Einwohner) Kälteanlagen mit einer Gesamtleistung von 77 MW el installiert. Als theoretisches Potenzial für ein Lastmanagement eignen sich Kälteanlagen mit zusammen 51 MW el.Das technisch-wirtschaftliche Lastverschiebungspotenzial liegt bei 43 MW el, das Potenzial der realisierbaren positiven Regelleistung bei 17 MW el, das Potenzial der negativen Regelleistung bei 21 MW el.
Becker sieht mögliche Geschäfts- und Tätigkeitsfelder für die Kälte- und Klimabranche in der Bereitstellung von Smart-Grid-ready-Komponenten und -Systemen sowie in intelligenten Automatisierungs- und Betriebsführungsstrategien. Seine Botschaft: Planer und ausführende Firmen sollten sich jetzt schon mit angepassten bzw. anpassbaren Anlagenkonzepten beschäftigen, insbesondere was die Dimensionierung von Speichern anbelangt.
Auch Martin Wenzel, Vorstand der Hörburger AG, Control Systems, Waltenhofen, ist der Auffassung, dass der Umbau der Netze von konventionell nach smart noch einige Zeit dauern wird. Das Smart Grid hat keine Lobby, die Angebote der Energieversorger werden erst kommen, wenn die AKW abgeschaltet sind. Dennoch sollte sich die Kälte-Klima-Branche jetzt schon mit dem Thema beschäftigen, denn so Wenzel Kälteprozesse eignen sich optimal für ein Lastmanagement und damit für Smart-Grid-Funktionen. Deutschland hätte gute Chancen, international zum Leitanbieter für Smart-Grid-Lösungen aufzusteigen, da viele Smart-Grid-Bausteine am Markt schon vorhanden seien. Dazu zählen Energiemanagementsysteme, Demand Side Management (DMS) und dezentrale Kraftwerke, die sich durch die Einbeziehung von DMS zu virtuellen Kraftwerken verbinden lassen. Was fehlt, sind die intelligenten Stromnetze sowie Geschäftsmodelle, die auf den unterschiedlichen Strompreisen durch Angebot und Nachfrage basieren. Derzeit existieren am Markt nur ein paar Mechanismen zur Beeinflussung von Angebot und Bedarf, zum Beispiel der Börsenhandel anhand von Lastprofilen, aber kein Geschäftsmodell, das auf Smart-Grid-Funktionen beruht, sagt Wenzel.Die Tendenzen am Strommarkt seien allerdings eindeutig: Der Anteil nicht regelbarer Stromerzeuger nehme zu, der Anteil regelbarer Erzeuger weiter ab. Daraus ergeben sich nach Ansicht von Wenzel für die Kälte-Klima-Branche und die Gebäudeautomationsindustrie Ansatzpunkte für Energiekosten-reduzierende Maßnahmen bei den Stromnutzern sowie eine wachsende Nachfrage nach Spitzenlastmanagementsystemen. Diese seien notwendig, um Schwankungen bei der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien auszugleichen und Lasten zu verschieben.
Um zusätzliche wirtschaftliche Anreize zu schaffen, seien jedoch zeit- und lastabhängige Preissignale notwendig. Eine weitere Möglichkeit zur Kompensation der Volatilität durch erneuerbare Energien sei die Aktivierung von Leistungsreserven im Gebäude, beispielsweise von BHKW oder Netzersatzanlagen. Potenziale für Lastmanagementsysteme gäbe es sowohl in Haushalten (Wärmepumpen, Elektrospeicherheizung, Trinkwassererwärmer, Kühl- und Gefrierschränke) als auch bei Industrie und Gewerbe (Prozesskälte, RLT-Anlagen, Druckluftanlagen). Bezogen auf die Lebensmittellogistik schätzt Wenzel, dass in Deutschland rund 1000 Kühlhäuser für ein Lastmanagement in Frage kommen, die zusammen etwa 100 MW Regelleistung bereitstellen könnten. Die etwa 30000 Lebensmittelfilialenkönnten sogar 300 MW Regelleistung bereitstellen. Je nach Verfügbarkeit und Schalthäufigkeit könnte der Betreiber einer 500-kW-Kälteanlage durch die Einbindung in ein Demand Side Management zwischen 4000 und 80000 Euro pro Jahr einsparen, so eine Studie der Dena.
So weit die Theorie. In der Praxis sei die Branche von den möglichen Geschäftsmodellen noch weit entfernt, so Wenzel und begründet das so:
- die Standardisierungsarbeiten laufen eher zögerlich, insbesondere in Bezug auf die Schnittstellen von Gebäudeautomationssystemen zu den Automatisierungssystemen der Netz- und Kraftwerksbetriebe,
- die meisten der bestehenden regelungs- und steuerungstechnischen Anlagen sind nicht auf Smart-Grid-Funktionen vorbereitet,
- Smart-Grid-Ready-Label, wie beispielsweise von Wärmepumpen, nutzen wenig, da die Kommunikationsstrecken noch nicht eingerichtet sind und deshalb auch die notwendigen Geschäftsmodelle fehlen.
Wenzel: Wir wissen noch nicht, wie die Signale der Energieversorger aussehen werden. Ein Hoffnungsschimmer sei die EEBus-Initiative, die in die richtige Richtung gehe. Auf der Basis der vorliegenden Erkenntnisse habe Hörburger das auf den Lebensmittel-Einzelhandel zugeschnittene Online-Managementsystem Shopinsight entwickelt, in dem bereits alle internen und externen Automatisierungsaufgaben Smart-Grid-gerecht aufbereitet sind. Wichtig sei es jetzt, die bestehenden Automatisierungssysteme für die Kommunikation mit intelligenten Stromnetzen fit zu machen. Die Kälte-Klima-Branche müsse dazu eigene Projekte anstoßen, um den Nachweis für Funktion und Wirtschaftlichkeit zu erbringen.
Michael Weilhart: Variable Tiefkühltemperaturen können Kühlgut auslaugen
Eher negative Erfahrungen mit Smart-Grid-Funktionen liegen bereits bei den Betreibern von Tiefkühlhäusern vor. Probleme bereiten die mit der Lastverschiebung verbundenen Temperaturschwankungen, die sich negativ auf die Qualität des Lagerguts auswirken können. Stark frequentierte Kühlhäuser eignen sich überhaupt nicht für den Smart-Grid-gesteuerten Betrieb, erklärt Michael Weilhart vom Ingenieurbüro Tiefkuehlhaus.info, München. Wenn sie dort nicht kühlen, bricht nach 20 Minuten die Temperatur zusammen. Gehen sie davon aus, dass bei sogenannten Umschlagkühlhäusern Tore und Türen bis zu 1000-mal am Tag geöffnet werden.
Voraussetzung für ein Smart-Grid-geführtes Lastmanagement in Kühl- und Tiefkühlhäusern sind neben attraktiven tariflichen Anreizen aus Sicht von Weilhart folgende Rahmenbedingungen:
- hervorragend thermisch hermetisierte Kühlhäuser,
- keine Wärmelasten, d. h. wenig Türöffnungen durch geringen Warenumschlag,
- effiziente Beleuchtung, z. B. LED,
- hohe spezifische Wärmekapazität der Waren, d. h. hohe Dichte bei guter Wärmeleitfähigkeit, z. B. Tiefkühl-Spinat,
- langfristige Einlagerung des Lagerguts,
- Lagergut verträgt Temperaturschwankungen; die Bandbreite muss vom Hersteller der Waren zugelassen werden,
- möglichst hohe Auslastung des Kühlhauses (hohe Speichermasse),
- sehr leistungsstarke Kälteanlage, geeignet für Teillast- und Hau-ruck-Betrieb,
- Warentemperatur ist Führungsgröße, nicht die Lufttemperatur,
- hohe Bereitschaft des Betreibers, auch energetisch ineffiziente Betriebssituationen zuzulassen.
Damit tarifgünstige Stromangebote genutzt werden können und die Kälte vom Raum zum Produkt gelangt, müsse die Verdampfungstemperatur der Kälteanlage um etwa 5 K gesenkt werden, so Weilhart. Bei einem energetischen Mehraufwand von sechs Prozent pro einem Kelvin tieferer Verdampfungstemperatur bedeute dies bei 5 K einen energetischen Mehraufwand von 30 Prozent (!). Diesen Wert gelte es, bei der Bewertung der Wirtschaftlichkeit von Smart-Grid-geführten Regelungsstrategien zu berücksichtigen. Von vornherein nicht geeignet für einen intermittierenden Betrieb seien Blutkonserven sowie Lagergüter, die durch die unterschiedlichen Tiefkühltemperaturen (und damit auch durch die unterschiedliche Umgebungsfeuchte) austrocknen. Dies zeigt sich äußerlich durch einen wachsenden Reifansatz. Bewährt habe sich eine zwischen dem Kühlhaus- und dem Netzbetreiber zu vereinbarende jahreszeitlich gestaffelte Lastverschiebung in Abhängigkeit von prognostizierten Starklastzeiten. Gut machbar seien 30 Minuten Zurückhaltung, in manchen Fällen auch zwei Stunden. Mehrmals hintereinander 1,5 StundenAbschaltzeit sei schon schwierig; vier Stunden und mehr führe zu Qualitätsproblemen, erläutert Weilhart. Durch Lastverschiebungsvereinbarungen mit dem Netzbetreiber könne bis zu 80 Prozent der Netzentgelte (zwischen 1,2 und 3,2 ct) pro Kilowattstunde Strom eingespart werden. Soweit möglich wird diese Option von einigen Kühlhausbetreibern bereits genutzt, da es sich wirtschaftlich rentiere, so Weilhart.
Den 2. Teil des Berichts über die KK-Fachtagung und das Fazit lesen Sie in der KK 7/2013 (erscheint am 18. Juli). Eine Video-Impression finden Sie unter http://bit.ly/137QgDo. -
Wolfgang Schmid
freier Fachjournalist für Technische Gebäudeausrüstung, München