Nach EnEV-Standard gebaute gewerblich genutzte Gebäude müssen künftig weniger beheizt, dafür aber oft schon in der Übergangszeit gekühlt werden. Dies gilt besonders für Neubauten mit einem hohen Fensterflächenanteil, die sich im Sommer wegen des hohen Wärmeschutz-Standards durch innere und äußere Wärmelasten überdurchschnittlich schnell aufheizen. So liegt der Wärmebedarf von Bürogebäuden oft nur noch bei 20 bis 30 W/m2, der Kühlbedarf dagegen bei 38 bis 50 W/m2. Diese Verschiebung hat zur Folge, dass sich die Heizperiode verkürzt, die Kühlperiode dafür aber schon bei wenigen Graden über dem Gefrierpunkt beginnt.
Die Umsetzung der EnEV und das Vordringen regenerativer Energien zeigen be-reits Wirkung auf den Erdgasmarkt. So ging der Erdgasabsatz seit dem Höchstwert im Jahr 2005 kontinuierlich zurück. Viele Stadtwerke stehen deshalb vor der Frage, ob sich die Erschließung von neuen Stadtteilen mit Erdgasleitungen überhaupt noch wirtschaftlich darstellen lässt oder ob es langfristig nicht nachhaltiger und ökonomischer ist, die zunehmend auf Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) basierende Fernwärme weiter auszubauen. Vor diesem Dilemma stehen auch die Stadtwerke Gießen, die ihr Fernwärmenetz seit Beginn des Ausbaus im Jahr 1982 inzwischen auf rund 160 Trassen-Kilometer ausgebaut haben und rund 79 Prozent ihres Fernwärmebedarfs mit Kraft-Wärme-Kopplung abdecken.
Matthias Funk, Abteilungsleiter Wärmeversorgung der Stadtwerke Gießen AG, beschreibt die Perspektive der Fernwärmeversorgung in Gießen so: Unser Ziel ist eine Erhöhung der Fernwärmedeckungsrate von derzeit 43 bis 44 Prozent auf rund 70 Prozent. Aktuell erweitern wir unser Fernwärmenetz jährlich um fünf bis sieben Tras-sen-Kilometer. Matthias Funk hält es unter den gegebenen Umständen auf dem Wärmemarkt und unter Berücksichtigung des stetig steigenden Gebäudeenergiestandards für sinnvoll, seinen Kunden vermehrt Warmenergie zur Verfügung zu stellen und die Kaltenergie, sprich das Gasnetz, dort wo es sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt, zurückzubauen. Wir sind gezwungen, das teilweise sehr alte Gasnetz aus Kokillengussrohren zu erneuern oder durch Fernwärme zu ersetzen. Gleichzeitig denken wir natürlich auch darüber nach, wie wir die zweifelsohne vorhandenen Wärmeüberschüsse unseres Fernwärmesystems im Sommer besser nutzen. Dabei könnte aus meiner Sicht die Fernwärme-angetriebene Absorptionskältemaschine (AKM) kleiner Leistung künftig maßgeblich zur Verbesserung der Energieeffizienz unseres Fernwärmesystems beitragen.
Pilotprojekt Dach-Café
Die Funktionsweise und Vorzüge von Fernwärme-angetriebenen Absorptionskältema-schinen sind bei den Stadtwerken Gießen (SWG) längst bekannt, allerdings ging es bisher um größere Leistungen, beispielsweise um 2 x 500 kW Kälteleistung für die Sparkasse Gießen, um einen 3,8-MW-Heißwasser-Absorber sowie einen 4-MW-Dampf-Absorber im Heizkraftwerk der Universität Gießen. Da die SWG künftig Kälte verstärkt als Dienstleistung zu festen Konditionen anbieten will, startete der Versorger ein Pilotprojekt mit der stadteigenen Genossenschaft Wohnbau Gießen GmbH, die Mitte 2009 mit der Grundsanierung des 13 Stockwerke umfassenden Dach-Café-Gebäudes in der Gießener Innenstadt begann. Wir wollten mit dem Klein-Absorber-Projekt ein Exempel statuieren und Erfahrungen mit kompakten Absorptionskältemaschinen sammeln. Da ist es von Vorteil, wenn Initiator und Nutzer geschäftlich miteinander verbunden sind, erklärt Matthias Funk die Entscheidung für das Dach-Café-Projekt. Die Wohnbau Genossenschaft Gießen ist sehr innovativ, da lag es nahe, das mit Fernwärme versorgte Gebäude als Pilotanlage auszuwählen.
Um die künftigen Nutznießer der dezentralen Kälteversorgung den Pächter des Dach-Cafés und den Mieter der Arztpraxis von diesem Vorhaben zu überzeugen, wurden in mehreren Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen konventionelle, elektrisch angetriebene Kälteerzeuger der mit Fernwärme angetriebenen Absorptionskältemaschine gegenübergestellt. Folgende Szenarien wurden durchgespielt:
- Strom wird per KWK produziert, dabei fällt Wärme in ausreichender Menge an. Insbesondere im Sommer, wenn kaum Heizwärme abgenommen, aber Kälte benötigt wird, gibt es ein Überangebot an Wärme, das bislang kaum genutzt wird.
- KWK-Anlagen werden künftig verstärkt in die Beschaffung von Regelleistung, der sogenannten Minutenreserve, eingebunden. Mit diesem zeitlich begrenzten Stromangebot sollen fluktuierende Strommengen aus Wind- und PV-Anlagen kompensiert werden. Mit der Minutenreserve lassen sich erheblich höhere Erlöse (sechsfach und höher) erzielen als mit normalem Tarifstrom. Die parallel anfallende Wärme kann zusätzlich zur Grundlastversorgung in das Fernwärmenetz eingespeist werden. Pufferspeicher vor Ort, entweder auf der Fernwärmeseite oder auf der Kaltwas-serseite, sorgen für eine Entkopplung der Absorptionskältemaschine vom Wärmeangebot des Fernwärmenetzes bzw. speichern Kälte auf Vorrat für das Klima- bzw. Raumkühlsystem.
- Mit der Umsetzung von Smart-Meter-/Smart-Grid-Funktionen gewinnt das Thema fluktuierende Energieangebote und damit das Thema Minutenreserve weiter an Bedeutung. Damit wächst der monetäre Anreiz für KWK-Anlagenbetreiber, positive Reserveleistung zur Verfügung zu stellen.
- Die Kälteerzeugung mittels Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung verbessert die Primärenergiebilanz eines Fernwärmesystems und senkt den Primärenergieverbrauch eines Gebäudes signifikant. Dadurch können die Vorgaben des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes, der Energieeinsparverordnung sowie von Green-Building-Zertifikaten einfacher erreicht werden.
Matthias Funk ist überzeugt, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die thermische Kälteerzeugung mittels Fernwärme neu zu bewerten: Die Zeit der Beliebigkeit von Stromeinspeisung und Stromentnahme nähert sich dem Ende. Wir sollten deshalb die aus der Kraft-Wärme-Kopplung zur Verfügung stehende Wärme möglichst ganzjährig nutzen, also auch zur Erzeugung von Kälte im Sommer. Noch nicht abschließend geklärt sei, wie man die Wärmeüberschüsse durch KWK-Anlagen im Sommer monetär bewertet.
Die Stadtwerke Gießen lösen das Problem vergleichsweise hoher Investitionskosten und niedriger Betriebskosten von AKM, indem sie ihren Kunden Kälte als Dienstleistung anbieten, das heißt, der Verbrauch an Kälte wird gegenüber dem Kunden in Kilowattstunden verrechnet. Damit entsteht eine Win-Win-Situation: Es ist sowohl uns als Fernwärmelieferant gedient als auch dem Kunden, der Kälte beziehen kann, ohne zu investieren und sich um eine Anlage kümmern zu müssen, sagt Funk.
Das Energie-Konzept für das Dach-Café
Alle Wohnungen im komplett sanierten Gebäude Dach-Café (49 Ein-, 36 Zwei- und 6 Drei-Zimmerwohnungen) werden über Fernwärme statisch beheizt. Kühlung ist ausschließlich für das etwa 400 m2 große Dach-Café (Restaurant) im 13. Stockwerk und die Arztpraxis (285 m2) im 2. OG vorgesehen. Die vom Yazaki-Vertriebspartner GasKlima, Erlensee, gelieferte Absorptionskältemaschine mit 105 kW Nenn-Kälteleistung verfügt über genügend Reserven, künftig auch die Büros im Nebengebäude mit Kälte zu versorgen.
Um die vergleichsweise niedrige Temperatur des Fernwärmenetzes von 80 °C optimal zu nutzen, ist die AKM direkt an das Fernwärmesystem angeschlossen und wird auch direkt mit dem Vordruck der zentralen Fernwärme-Pumpe betrieben. Auf der Kaltwasserseite arbeitet der Absorber auf einen Pufferspeicher, der über ein Zweileiternetz die Umluft-Kühlgeräte und das Zuluftgerät im Dach-Café sowie die Umluftkühlgeräte in der Arztpraxis versorgt.
Eine Besonderheit bei der Einbindung des Absorbers in das Regelungskonzept ist die Hydraulik. Während der AKM-Hersteller Yazaki eine Schaltung mit konstantem heißwasserseitigem Volumenstrom und variabler Vorlauftemperatur empfiehlt, entschlossen sich die Ingenieure der Stadtwerke Gießen aufgrund der Empfehlung des Lieferanten GasKlima GmbH zu einem Anschluss der Maschine mit variablem Volumenstrom und konstanter Vorlauftemperatur. Willi Schwarz, HLK-Techniker und Betriebswirt der SWG, erklärt die Abweichung von der Herstellerempfehlung so: Mit unserer Schaltung sparen wir eine zusätzliche Pumpe und damit auch elektrische Antriebsenergie ein. Damit erreichen wir eine sehr große Auskühlung des Rücklaufs, die nach ersten Erfahrungen bei bis zu 35 K unter der Vorlauftemperatur liegen kann. Da wir über die Heizwasser-Volumenmenge direkt die Kaltwassermenge ausregeln, kommen wir im anlagentypischen Teillastbetrieb auf eine außergewöhnlich hohe Auskühlung, die exergetisch betrachtet für ein Fernwärmesystem ideal ist. Das große Delta T sei ungewöhnlich für eine Absorptionskältemaschine kleiner Leistung, die sonst mit eher kleineren Temperaturdifferenzen arbeite.
Drehzahlregelung für Rückkühler
Auch bei der regelungstechnischen Einbindung des Rückkühlers, ein in einem Nebengebäude integrierter Nasskühlturm von Gohl mit aufgesetztem Schwadenregister, gingen die Fernwärmespezialisten eigene Wege. Statt mit konstanter Drehzahl laufen alle Antriebe, also Umwälzpumpe für den Rückkühlkreislauf und Kühlturmventilator, drehzahlvariabel. Die Drehzahlregelung des Kühlturmkreislaufes in Abhängigkeit der Kühlwassertemperatur reduziert die Wasserverdunstung und damit die Aufsalzung. Das erspart uns Pumpen- und Ventilatorenenergie und vermindert die Reinigungsintervalle, sagt Willi Schwarz. Bei Regen reiche die adiabate Kühlung häufig aus, die Absorberabwärme ohne zusätzlichen Lüfterbetrieb abzuführen.
Da es sich um den ersten Klein-Absorber im Fernwärmegebiet der Stadtwerke Gießen handelt, werden alle wichtigen Daten und Parameter von einer Industrie-SPS erfasst und mitgeschrieben. Wir wollen mit der Anlage so viel wie möglich an Erfahrungen sammeln, sagt Schwarz. Deshalb wird der COP permanent mitgeschrieben und monatlich bilanziert. Matthias Funk und Willi Schwarz sind jetzt schon überzeugt, dass dezentrale Klein-Absorber in Fernwärmenetzen künftig einen festen Platz finden werden. Schwarz: Jetzt geht es darum, un-sere Fernwärmekunden von der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit einer solchen Lösung zu überzeugen. Dazu brauchen wir jedoch auch die Unterstützung der TGA-Fachplaner und der Hersteller von Absorptionskältemaschinen, die dieser Anwendung noch zu wenig Bedeutung beimessen. Bei der Regelung dieser Maschinen müsse man jedoch neue Wege gehen. Willi Schwarz: Viele AKM-Anlagen werden leider mit 5 bis 8, maximal 10 K Auskühlung gefahren. Die Yazaki-Maschine schafft mit unserem Regelungskonzept ein Delta T von 35. Wir sind also auf dem richtigen Weg. -
Wolfgang Schmid
freier Fachjournalist für Technische Gebäudeausrüstung, München