Dass es auch anders geht, zeigt das Cumulus RE-Verfahren, das Linde erfolgreich bei einem Unternehmen für Systemoberflächen implementiert hat. Dort nutzt man die Kälteenergie des Flüssiggases gleich energie- und kosteneffizient für die Prozesskühlung.
Wenn es darum geht, innovative Oberflächen zu entwickeln, führt kein Weg an der DTS Systemoberflächen GmbH, ein Schwesterunternehmen der Wilhelm Taubert GmbH, vorbei. Das Unternehmen aus Möckern bei Magdeburg ist nicht nur Spezialist für das Oberflächendesign, sondern auch für die Gestaltung umweltfreundlicher Prozesse. Im Mittelpunkt steht dabei die Elektronenstrahl-Technologie (ESH), die vor 35 Jahren von der Wilhelm Taubert GmbH weiterentwickelt wurde. Diese sorgt dafür, dass die elektronenstrahlgehärteten Oberflächen (Elesgo) nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern auch robust und langlebig sind. Mithilfe des Verfahrens entstehen vollständig vernetzte Oberflächen und es lassen sich mikroskopisch kleine Strukturen übertragen. Das Ergebnis: unterschiedlichste Produkteigenschaften bezüglich Optik, Haptik und Funktion – von extrem matt mit Anti-Fingerprint-Eigenschaften über hochglänzend bis zu einem Woodfinish. Je nach Anwendungsbereich entstehen so zum Beispiel lebensmittelechte Oberflächen für eine Küchenarbeitsplatte, antibakterielle Oberflächen für Laboranwendungen oder hochwertige Möbeloberflächen mit soft-matter Optik und Haptik.
Die Elektronenstrahl-Technologie punktet aber noch unter einem anderen Aspekt. Das Produktionsverfahren überzeugt mit einem besonders geringen Energieverbrauch und ist emissionsfrei. „Wir verwenden keine Lösemittel oder Formaldehyde“, erklärt Sarah Taubert, Geschäftsführerin der Wilhelm Taubert GmbH. Davon profitieren auch die späteren Nutzer der so beschichteten Möbel. Da die Oberflächen voll vernetzt und geschlossen sind, sind die Oberflächen der Möbel geruchsarm und stoßen keine Schadstoffe aus.
Komplexe Prozesse lassen sich umweltfreundlich gestalten
Dabei ist der Prozess für die Herstellung der kratzfesten Oberflächen hochkomplex. „Neben langjähriger Erfahrung erfordert dies viel Know-how, das Ergebnis ist jedoch eine hohe Qualität“, so Sarah Taubert. In dem Verfahren werden Elektronen beschleunigt und auf die zu beschichtende Oberfläche geschossen. Da dabei hohe Temperaturen entstehen, ist eine Kühlung der Produktionsanlagen notwendig. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer Inertisierung des Reaktionsraums. Die Inertisierung erfolgt über die Begasung mit Stickstoff (N2).
Genau hier kommt der Gasespezialist Linde ins Spiel, mit dem man seit über 30 Jahren zusammenarbeitet. Und vom Stickstoff benötigen die Oberflächenspezialisten eine ganze Menge. Der Stickstoff verdrängt im Prozess die umgebende atmosphärische Luft und damit den darin enthaltenen Sauerstoff. So wird eine Oxidation bei hohen Temperaturen vermieden und die Oberflächenqualität wird gesichert. „Die Temperaturen in dem Prozess dürfen nicht allzu sehr schwanken, diese liegen etwa zwischen 20 und 23 Grad Celsius. Sind die Temperaturen zu niedrig, kommt es zu Kondenswasser“, hebt Kilian Tenorth, Projektentwicklung bei der Wilhelm Taubert GmbH, die Bedeutung einer konstanten Wassertemperatur hervor, welche durch das Cumulus RE-Verfahren ermöglicht wird.
Kälteenergie für den Prozess nutzen
Generell sind die Mengen an benötigtem Stickstoff im Laufe der Jahre erheblich gestiegen. „Zum einen sind unsere produzierten Mengen mehr geworden und die Arbeitsbreite ist von 500 auf 1600 Millimeter gestiegen. Damit steigen die Stickstoffmengen für die Inertisierung. Zum anderen wächst unser Unternehmen, derzeit erweitern wir unsere Flächen in Wesel um 6000 Quadratmeter“, erklärt Sarah Taubert.
Daher ist man sehr an Lösungen interessiert, wie sich Stickstoff energieeffizienter nutzen lässt – im Übrigen nicht nur aus Kostengründen, sondern auch weil Umweltschutz seit jeher zur Philosophie des Unternehmens gehört. Zum Hintergrund: Das tiefkalte verflüssigte Gas muss für die Inertisierung zunächst verdampft und dann erwärmt werden. Dabei entsteht Kälteenergie, die bisher nicht genutzt wurde, sondern üblicherweise an die Umgebung abgegeben wird. Angesichts der immensen Investitions- und Betriebskosten für Kältemaschinen und dem wachsenden Augenmerk auf die Energieeffizienz und CO2-Reduzierung im Rahmen des allgemeinen Klimawandels, sollte die Kälteenergie der Flüssiggase für die Prozesskühlung genutzt werden.
Eine technische Lösung für diese Aufgabenstellung hat Linde mit Cumulus RE entwickelt. „Dieses Verfahren passte gut zu unserem Anspruch, nicht nur umweltfreundliche Produkte anzubieten, sondern diese emissionsarme Technologie auch in unseren Prozessen anzuwenden“, bekräftigt Sarah Taubert. „Das Verfahren war auch ein wichtiger Baustein bei der Zertifizierung nach ISO 5001 der DTS Systemoberflächen GmbH“, ergänzt Kilian Tenorth.
Der Standort Möckern bot sich für die Erprobung des neuen Cumulus RE-Verfahrens an. „Die Idee entstand schon vor einigen Jahren. Damals war die Zeit jedoch noch nicht reif, weil die apparatetechnische Verknüpfung zweier ganz unterschiedlicher Systeme nicht so einfach ist. Man musste die Systeme für Heizung, Lüftung, Klimatechnik mit unseren Anlagen abstimmen. Hier waren saubere Schnittstellen zu definieren, Sicherheitssysteme und Lastwechsel zu beachten, die viele Engineeringleistungen nach sich zogen. Das alles musste in ein vernünftiges Gesamtkonzept integriert werden“, nennt Jörg Steinke, Projektleiter im Bereich Chemie – Energie und Umwelttechnik bei Linde, nur einige der technischen Herausforderungen. „Aber als die neue Maschine MA 3 in Möckern aufgebaut wurde, passte alles zusammen und wir konnten dort mit einer Art Pilotprojekt starten.“
Funktionsweise und Vorteile
Bei diesem Verfahren wird die Kälteenergie durch die Flüssiggaskälte mithilfe eines Wärmeübertragers in die Rücklaufleitung der Kälteanlage beim Kunden eingekoppelt. Die im Wasser enthaltene Wärme wird mithilfe eines Prozesswasserkühlers zur Verdampfung des flüssigen Stickstoffs genutzt und das Gas in die bestehende Versorgungsleitung eingeleitet. Eingesetzt werden kann das Verfahren in Produktionsprozessen, die sowohl größere Mengen an technischen Gasen als auch an Kälte benötigen.
Da das neue Verfahren durch eine ingenieurwissenschaftliche Untersuchung der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Mannheim begleitet wurde, erhielten die Beteiligten sehr schnell belastbare Zahlen und die waren mehr als überzeugend: Nach der Installation wurden 2019 im Werk Möckern 189,4 MWh Kälteenergie pro Jahr und 54,1 MWh elektr. Energie pro Jahr (mit Leistungszahl 3,5) eingespart. Auch beim Strombedarf überzeugte die neue Anlage schnell, rund 11 904 Euro pro Jahr standen hier positiv zu Buche. Gleichzeitig wird der CO2-Ausstoß nach deutschem Strommix um 26,5 Tonnen pro Jahr reduziert.
Neben den finanziellen Entlastungen spielen auch Redundanz und die Entlastung der Kühlaggregate eine große Rolle. Zwar gelten moderne Kältemaschinen eigentlich als wartungsarm und nicht besonders störanfällig – sie arbeiten bei entsprechender Platzierung mit nahezu konstanter Kälteleistung. Dennoch entlastet das Verfahren die Kältemaschinen, da der Verschleiß an den Anlagenteilen weniger wird. Die Maschinen können zudem meist kleiner dimensioniert werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Bei steigender Umgebungstemperatur – wie sie in den vergangenen Sommern täglich vorkam – verschlechtert sich der Wirkungsgrad und die Wahrscheinlichkeit für einen Ausfall der Kältemaschine steigt. Im heißen Sommer 2018 konnte man bei der DTS Systemoberflächen GmbH einen drohenden Ausfall der Kältemaschine dank des neuen Systems gleich verhindern. „Das Verfahren sorgt einfach für Prozesssicherheit. Wir setzen auf eine Kombination aus dem Verfahren und den konventionellen Kältemaschinen, wobei die primäre Kälteleistung aus dem Cumulus RE-Verfahren gewonnen wird“, ergänzt Tenorth.
Ausblick
Aufgrund der guten Erfahrungen setzt man das Verfahren seit Ende 2018 auch am Weseler Standort ein. „Die Anlagen sowohl im Werk Möckern als auch am Standort Wesel arbeiten problemlos“, so das Fazit von Taubert-Projektentwickler Tenorth. Aus dem Pilotprojekt ist mittlerweile längst ein Vorbild geworden. ■